Sebastian Haffner | Geschichte eines Deutschen | Prolog

Die Geschichte, die hier erzählt werden soll, hat zum Gegenstand eine Art von Duell. Es ist ein Duell zwischen zwei sehr ungleichen Gegnern:
einem überaus mächtigen, starken und rücksichtslosen Staat, und
einem kleinen, anonymen, unbekannten Privatmann.

Dies Duell spielt sich nicht auf dem Felde ab, das man gemeinhin als das Feld der Politik betrachtet; der Privatmann ist keineswegs ein Politiker, noch weniger ein Verschwörer, ein „Staatsfeind“. Er befindet sich die ganze Zeit über durchaus in der Defensive.
Er will nichts weiter, als das bewahren, was er, schlecht und recht, als seine eigene Persönlichkeit, sein eigenes Leben und seine private Ehre betrachtet.
Dies alles wird von dem Staat, in dem er lebt und mit dem er es zu tun hat, ständig angegriffen, mit äußerst brutalen, wenn auch etwas plumpen Mitteln.

Unter furchtbaren Drohungen verlangt dieser Staat von diesem Privatmann, daß er seine Freunde aufgibt, seine Freundinnen verlässt, seine Gesinnungen ablegt, vorgeschriebene Gesinnungen annimmt, anders grüßt als er es gewohnt ist, anders isst und trinkt als er es liebt, seine Freizeit für Beschäftigungen verwendet, die er verabscheut, seine Person für Abenteuer zur Verfügung stellt, die er ablehnt, seine Vergangenheit und sein Ich verleugnet, und vor allem für alles dies ständig äußerste Begeisterung und Dankbarkeit an den Tag legt. Das alles will der Privatmann nicht.

Er ist wenig vorbereitet auf den Angriff, dessen Opfer er ist, er ist kein geborener Held, noch weniger ein geborener Märtyrer. Er ist einfach ein Durchschnittsmensch mit vielen Schwächen, noch dazu das Produkt einer gefährlichen Epoche: Dies aber will er nicht. Und so lässt er sich auf das Duell ein – ohne Begeisterung, eher mit Achselzucken; aber mit einer stillen Entschlossenheit, nicht nachzugeben. Er ist selbstverständlich viel schwächer als sein Gegner, dafür freilich etwas geschmeidiger.

Man wird sehen, wie er Ablenkungsmanöver macht, ausweicht, plötzlich wieder ausfällt, wie er
balanciert und schwere Stöße um Haaresbreite pariert. Man wird zugeben, dass er sich im Ganzen für einen Durchschnittsmenschen ohne besonders heldische oder märtyrerhafte Züge ganz wacker hält.
Dennoch wird man sehen, wie er zum Schluß den Kampf abbrechen – oder, wenn man will,
auf eine andere Ebene übertragen muss.

Der Staat ist das Deutsche Reich, der Privatmann bin ich.

Das Kampfspiel zwischen uns mag interessant zu betrachten sein, wie jedes Kampfspiel. (Ich hoffe, es wird interessant sein!)  Aber ich erzähle es nicht allein um der Unterhaltung willen. Ich habe noch eine andere Absicht dabei, die mir noch mehr am Herzen liegt.

Mein privates Duell mit dem Dritten Reich ist kein vereinzelter Vorgang. Solche Duelle, in denen
ein Privatmann sein privates Ich und seine private Ehre gegen einen übermächtigen feindlichen
Staat zu verteidigen sucht, werden seit sechs ]ahren in Deutschland zu Tausenden und Hunderttausenden ausgefochten – jedes in absoluter Isolierung und alle unter Ausschluss der Öffentlichkeit.

Manche von den Duellanten, heldischere oder märtyrerhaftere Naturen, haben es weiter gebracht als ich: bis zum Konzentrationslager, bis zum Block, und bis zu einer Anwartschaft auf künftige Denkmäler. Andere sind schon viel früher erlegen und sind heute schon längst still murrende S.A.-Reservisten oder N.S.V.-Blockwalter. Mein Fall mag gerade ein Durchschnittsfall sein.
Man kann recht gut an ihm ablesen, wie heute die Chancen in Deutschland für den Menschen stehen. Man wird sehen, dass sie ziemlich hoffnungslos stehen. Sie brauchten nicht ganz so hoffnungslos zu stehen, wenn die Außenwelt wollte.
Ich glaube, dass die Außenwelt ein Interesse daran hat, zu wollen, dass sie weniger hoffnungslos stehen. Sie könnte – zwar nicht mehr den Krieg; dazu ist es zu spät – aber ein paar Kriegsjahre dadurch sparen.
Denn die Deutschen guten Willens, die ihren privaten Frieden und ihre private Freiheit zu verteidigen suchen, verteidigen, ohne es zu wissen, noch etwas anderes mit: den Frieden und die Freiheit der Welt.
Es scheint mir deswegen immer noch der Mühe wert, die Aufmerksamkeit der Welt auf diese
Vorgänge im unbekannten Deutschland zu lenken.

Ich will in diesem Buch nur erzählen, keine Moral predigen. Aber das Buch hat eine Moral, welche, wie das „andere und größere Thema“ in Elgars Enigma-Variationen „durch und über das Ganze geht“ – stumm. Ich habe nichts dagegen, dass man nach der Lektüre alle die Abenteuer und Wechselfälle wieder vergisst, die ich erzähle.

Aber ich wäre sehr befriedigt, wenn man die Moral, die ich verschweige, nicht vergäße.